Junge iranische Frauen gehen an einem Propagandaplakat vorbei / dpa

Israel und Iran - Am Rande der Klippe

Israel und der Iran haben jeweils ein Interesse daran, dass ihr aktueller Konflikt nicht eskaliert. Gleichzeitig geht es für beide Länder auch um Abschreckung und Glaubwürdigkeit, wie auch der jüngste mutmaßliche Luftschlag Israels zeigt.

Autoreninfo

Kamran Bokhari ist Experte für den Mittleren Osten an der Universität von Ottawa und Analyst für den amerikanischen Thinktank Geopolitical Futures.

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Ein jahrzehntealter Brauch wurde am 13. April beendet, als der Iran Hunderte von Drohnen und Raketen von seinem eigenen Territorium aus auf Israel abfeuerte, anstatt sich auf seine Stellvertreter zu verlassen. Die Führung Israels hat vermutlich mit einem begrenzten Luftschlag in der Region Isfahan reagiert, über den die New York Times berichtet, indem sie sich sowohl auf israelische als auch auf iranische Regierungsmitarbeiter beruft. Bezeichnenderweise hat Israels Regierung darüber nicht offiziell informiert, und Irans staatliche Nachrichtenagentur Irna berichtete am Freitagmorgen, es habe sich um keine breit angelegte Attacke gehandelt. Vor ein paar Stunden wurden mehrere kleine Flugobjekte am Himmel von Isfahan gesichtet und getroffen, sagte eine Reporterin in einer Live-Schalte des Staatsfernsehens. Der kurzzeitig unterbrochene Luftverkehr sei wieder aufgenommen worden. Die iranische Regierung wies zugleich Berichte zurück, wonach der Sicherheitsrat des Landes zu einer Notsitzung zusammengekommen sei.  

Damit hat eine gefährlichere Ära im israelisch-iranischen Konflikt begonnen. Lange Zeit als inakzeptabel angesehen, werden periodische Angriffe auf das Territorium des anderen zur Norm werden. Beide Seiten haben Anreize, eine Eskalation zu vermeiden, aber die Logik des Konflikts verlangt eine Reaktion, was bedeutet, dass es kein Zurück zum Status quo ante gibt.

Ein schwer kalkulierbares Risiko 

Jahrelang führte Israel verdeckte Operationen auf iranischem Boden durch, hauptsächlich um das Atomprogramm Teherans zu stören. Darüber hinaus haben israelische Luftangriffe zunehmend die Vermögenswerte und das Personal der Islamischen Revolutionsgarde (IRGC), einschließlich hoher Generäle, im Libanon, in Syrien und (in viel geringerem Maße) im Irak, ins Visier genommen. Trotzdem zögerten die Iraner bisher, den Kampf direkt nach Israel zu tragen. Dies zu tun bedeutete nicht nur, eine psychologische Barriere zu überschreiten, sondern auch, ein schwer kalkulierbares Risiko einzugehen.  

Stattdessen absorbierte der Iran seine Verluste und blieb strategisch geduldig. Allmählich gestaltete er die regionale Sicherheitsarchitektur um. Teheran profitierte erheblich vom Zusammenbruch der arabischen Welt und nutzte Stellvertreter, um eine robuste Präsenz im Libanon, im Irak, in Syrien und zuletzt im Jemen zu etablieren. Darüber hinaus hat Israels harte militärische Reaktion auf den Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 eine erhebliche internationale Reaktion ausgelöst, darunter viel Kritik. 

Unter wachsendem Druck, den Krieg im Gazastreifen zu beenden, und im Bewusstsein, dass sich die Umstände zugunsten des Irans entwickelten, startete wahrscheinlich Israel am 1. April 2024 einen Luftangriff auf ein iranisches diplomatisches Gelände in Damaskus (hat aber nie offiziell Verantwortung für diesen übernommen). Taktisch war der Schlag bescheiden erfolgreich. Zwei hochrangige IRGC-Kommandeure und fünf weitere ranghohe Offiziere wurden getötet, aber Teheran kann Militäroffiziere ersetzen. Psychologisch aber war der Angriff verheerend.

Glaubwürdigkeit und Abschreckung 

Aus iranischer Sicht ist ein Angriff auf sein Konsulat gleichbedeutend mit einem Angriff auf iranisches Territorium. Teheran fühlte, dass seine Glaubwürdigkeit – sowohl zu Hause als auch unter Verbündeten und Gegnern – auf dem Spiel stand. Seine Führer beschlossen zu vergelten, um die Glaubwürdigkeit und Abschreckung des Irans wiederherzustellen, ohne einen umfassenden Krieg auszulösen. Ein Angriff durch die Stellvertreter des Iran hätte dafür wohl nicht ausgereicht und hätte zudem den Eindruck verstärken können, dass Teheran nicht den Willen zum Kampf hat und sich stattdessen hinter seinen arabischen Stellvertretern versteckt. 

Gleichzeitig wollten die Iraner die globale Aufmerksamkeit nicht vom Gazastreifen ablenken und Israel von dem Druck entlasten, unter dem es steht. Ihre Lösung für dieses Dilemma bestand darin, einen direkten Angriff auf Israel zu verüben, der performativ war und darauf abzielte, Opfer zu minimieren. Sie taten dies, indem sie ihren Angriff über Vermittler und Rückkanäle mit den Vereinigten Staaten ankündigten, um der anderen Seite Zeit zur Vorbereitung zu geben. Auf diese Weise demonstrierten die Führer des Irans ihrem Publikum, dass sie bereit waren, in die Offensive zu gehen, und minimierten gleichzeitig das Risiko einer Eskalation.
 

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Dass der Angriff des Iran nur geringfügige Schäden an einer Luftwaffenbasis verursachte und keine Leben kostete, nicht zuletzt dank der Unterstützung westlicher und regionaler Luftstreitkräfte, sollte nicht von dem enormen Ausmaß des Drohnen- und Raketenhagels ablenken. Er begann mit dem Start von etwa 170 Drohnen, von denen angeblich alle abgeschossen wurden, bevor sie israelischen Luftraum erreichen konnten. Israel und seine Verbündeten behaupten auch, 25 von 30 Marschflugkörpern im ausländischen Luftraum neutralisiert zu haben, während die meisten der 120 eingehenden ballistischen Raketen von den israelischen Luftverteidigungssystemen abgefangen wurden. Trotz des überwiegend erfolgreichen Verteidigungseinsatzes wird der Iran von dieser seltenen Gelegenheit profitieren, seine Raketen- und Drohnenfähigkeiten – sowohl die Hardware als auch das Personal – unter tatsächlichen kinetischen Bedingungen zu testen.

Stunden nach dem Angriff erklärte der Kommandeur der IRGC, Generalmajor Hossein Salami, der Iran habe „entschieden, eine neue Gleichung zu schaffen“. Der Geheimdienstminister Esmaeil Khatib äußerte ähnliche Gedanken und sagte, der Angriff markiere den Beginn einer neuen Strategie. Salami warnte außerdem davor, dass Teheran im Falle eines künftigen israelischen Angriffs gegen „iranische Interessen, Persönlichkeiten und Bürger“ überall direkt zurückschlagen werde.

Ein schwieriger Drahtseilakt 

Israels Herausforderung besteht darin, dass seine Antwort den Iran davon überzeugen muss, dass direkte Angriffe untragbar teuer sind, ohne zu weiterer Eskalation zu führen. Der Iran dürfte nach dem Angriff mehr Vertrauen in seine Fähigkeiten haben. Abgesehen davon, dass die IRGC sich in einer echten Kampfsituation testen kann, kann sie studieren, wie die Israelis und ihre Verbündeten ihre Drohnen und Raketen abgefangen haben, um ihre Chancen zu verbessern, Israels Verteidigung beim nächsten Mal zu durchbrechen.

Militärisch hat Israel eine Vielzahl von Optionen. Es verfügt über hochmoderne Kampfflugzeuge wie die F-35 und Langstreckenraketen, die weitaus effektiver sind als das, was der Iran in seinem Arsenal hat. Israels vermutlicher Gegenschlag wurde nicht vorangekündigt und blieb insgesamt eine begrenzte Operation. Aber Israel musste seine Antwort kalibrieren, um einen endlosen Eskalationszyklus zu vermeiden. 

Beide Seiten haben ein Interesse daran, dieses Ereignis schnell zu beenden. Israel muss sich auf den Gazastreifen und seine nördlichen Flanken konzentrieren, und seine innenpolitische Situation ist fragil. Ähnlich befindet sich das iranische politische System inmitten eines historischen Übergangs, und in einem konventionellen staatlichen Konflikt ist Teheran militärisch gesehen die schwächere Macht. Es gibt genug Gründe für beide Seiten, sich vom Rand der Klippe zurückzuziehen, aber zunächst müssen beide glauben, dass die Abschreckung wiederhergestellt wurde, was ein schwieriger Drahtseilakt ist.
 

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Albert Schultheis | Fr., 19. April 2024 - 11:40

Auffallend! Die despotischen, verbohrten, aber im Umgang mit Israel überaus klugen und zurückhaltenden Mullahs auf der einen - und die demokratischen aufgeklärten, aber von Hass zerfressenen, von Hybris geschlagenen Israelis auf der anderen Seite!
"Israel und der Iran haben jeweils ein Interesse daran, dass ihr aktueller Konflikt nicht eskaliert." - Ja, das muss man ehrlicher Weise dem Iran attestieren, trotz aller verbalen Ausfälle - den Israelis gegenüber aber ist das ein sträfliches Gefälligkeitsurteil! Israel führt gemeinsam mit den USA seit Jahrzehnten militärisch-geheimdienstliche "verdeckte Operationen auf iranischem Boden" durch - dh eine mörderische Politik der Nadelstiche! Wann immer der Iran reagiert, blökt die internationale Hetz-Kamarilla los von wegen Bruch Internationalen Rechts!
Unterm Strich kann man nur Eines konstatieren: die stärksten Verbündeten der Mullahs für den Erhalt und die Festigung ihres Terrorregimes nach Innen sind Israel und die USA durch ihren Terror

Helmut Bachmann | Fr., 19. April 2024 - 11:44

Die Formulierungen in dem Artikel klingen immer etwas sehr danach, als wäre der Iran, bzw. das Regime berechenbar. Das ist es sicher nicht wirklich. Der strategische Denker unterstellt dies nur. Alles in allem geht es dem Iran erkennbar um Macht in der Region und dafür sind viele Mittel Recht. Doch dass das Streben nach der Zerstörung Israels nur religöse Folklore ist und man eigentlich nur Frieden will, sowas können deutsche Politiker gern glauben, ich tue das nicht.

Ronald Barker | Sa., 20. April 2024 - 09:27

Antwort auf von Helmut Bachmann

Hum..JCPOA..da war was oder?

ROn Barker

Tomas Poth | Fr., 19. April 2024 - 14:27

... mit einer "kalibrierten Antwort".
So wird es nichts mit Frieden und Ausgleich in der Region!
Besser nicht spekulieren und alle Finger vom Abzug!

Wilfried Düring | Fr., 19. April 2024 - 20:17

Das iranische Geiselnehmer-Regime will nicht (nur) Macht und Einfluß; es will die Vernichtung/Auslöschung des Staates Israel.
Mit den Mullahs gibt es deshalb keinen Frieden und keine Verständigung!
Dieses Regime muß weg - mit 'Stumpf und Stiel', will sagen mit seinen blutbefleckten Kollaborateuren von Hamas bis Hisbollah.
Es gibt keinen anderen Weg!
Die israel-feindliche Doppel-Moral des Ampel-Regimes im Mantel angeblicher 'Solidarität' verdient nur ein Wort: - schäbig!
‘Es müssen jetzt ALLE besonnen und verantwortungsvoll handeln’, teilte uns die Außenministernde mit. Und weiter an die Israelis gerichtet: 'Ich rede hier nicht von Kleinbeigeben, ich rede hier von einer klugen Zurückhaltung, die nichts weniger ist als Stärke.'
Warum hat Genossin Baerbock (oder ein anderer Minister der bunten Regierung) sowas nicht ein einziges Mal Richtung Ukraine formuliert!? SO VIELE MENSCHEN haben auf ein solches Wort der Mäßigung, der Besonnenheit und der Verantwortung schon soo lange gewartet.

Dietmar Philipp | Sa., 20. April 2024 - 09:12

Der Nahe Osten ist gegenwärtig noch ein sehr großes Problem. Mit weiterem Verlauf der Geschichte wird sich auch zwangsläufig der Iran soweit verändern müssen, dass nicht mehr die Nachfolger von Mohamed das Regierungsoberhaupt bilden, sondern Unabhängige. Eine Trennung von Regierung und Glaube ist möglich. Das würde auch in die Welt besser passen und sich im Handel und Wandel günstig für alle bemerkbar machen.